„Ich und du – anders und doch gleich“

Das Antoniusheim Münchshöfen gedachte an die Opfer des Euthanasieverbrechens in Hartheim/Linz

Ein trauriges Kapitel in der Geschichte des Antoniusheims jährt  sich in diesen Tagen zum 75. Mal. Die Rassenpolitik der Nationalsozialisten, die die Ermordung „geistig und körperlich Minderwertiger“ anordnete, traf auch das Antoniusheim mit aller Härte: 107 behinderte Frauen aus dem Antoniusheim wurden in den Gaskammern des österreichischen Ortes Hartheim vergast. Aus diesem Anlass entstand unter den Bewohnern und Mitarbeitern der tiefe Wunsch, diesen dunklen Teil der Geschichte miteinander aufzuarbeiten und so die Opfer nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wochenlang haben sich die einzelnen Gruppen mit der Thematik auseinandergesetzt. Mit einem Gottesdienst, verschiedenen gemeinsam erarbeiteten Aktionen und einer Fahrt nach Hartheim gedachten sie der ermordeten Frauen und dem grausamen Umgang mit behinderten und psychisch erkrankten Menschen im Dritten Reich.

Bei einer der Veranstaltungen im voll besetzten Speisesaal des Antoniusheims fällt der Blick sofort auf die liebevoll geschmückten Tische, Tonscherben mit den Namen der ermordeten Frauen und Pflanzenblätter, auf denen die einzelnen Strophen des Liedes von Dietrich Bonhoeffer zu finden sind. Man merkte: Diese Gemeinschaft, Menschen mit verschiedenen Stärken und Schwächen und Behinderungen, strahlt wahre Lebensfreude aus. Patrick Uhl, der Leiter des Antoniusheims, betonte: „Alle Menschen haben die gleichen Rechte. Kein Mensch ist perfekt! Mit gegenseitiger Hilfeleistung und vielfältiger Kommunikation können wir uns ergänzen. Zusammen sind wir eine starke Gemeinschaft!“ Wochenlang wurden Vorbereitungen getroffen, gebastelt , gemalt und verschiedene Gespräche geführt, um die Geschichte von Krieg und Tod, Zerstörung, Angst, Leid und Unmacht aber auch Hoffnung und Wiederaufbau lebendig werden zu lassen. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Antoniusheims von heute haben alle Namen der Frauen, die damals als „lebensunwertes Leben“ ausradiert wurden, sorgfältig auf 107 Tonscherben handschriftlich verewigt, um sie aus der Vergessenheit zu holen und ihnen einen Platz in der Gemeinschaft zu geben! Denn jeder Mensch und jedes Opfer hat einen Namen. Dieser ist eng verbunden mit seiner Persönlichkeit, seiner Identität und seinem Lebensschicksal. Die Scherben – auch ein Symbol für Trümmer, Not, Angst, Verlust, Verderben, Trauer und Schmerz – wurden am Ende der mehrtägigen Veranstaltungsreihe feierlich mit Pfarrer Ludwig Bumes im schattigen Garten unter hohen Bäumen – ein wunderbarer Ort der Stille und des Innehaltens – vergraben. Somit stehen die Scherben auch für Nichtvergessen, Glaube, Hoffnung und Neuanfang!

Zuvor stellte Hochwürden Pfarrer Ludwig Bumes in der hauseigenen Kapelle des Antoniusheims  die Würde des Menschen und den Menschen selbst in seiner Vielfalt und in seiner Einmaligkeit in den Mittelpunkt seiner Predigt. Die große Gemeinschaft, Vertrauen, gegenseitige Achtung und Respekt war auch hier deutlich zu spüren: Der Mitarbeiterchor umrahmte musikalisch den Gottesdienst und die Bewohner trugen Fürbitten vor, in denen um Liebe, Kraft, Hoffnung, Vergebung und Glauben gebetet wurde. Als der Gottesdienst feierlich endete, wurde spontan geklatscht.

Die „Aktion T4“ – der Krankenmord

Der ehemalige Heimleiter  Gerhard Schill erläuterte in seinem Vortrag – ausgehend von der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Situation Deutschlands – wie es zu der Euthanasie kommen konnte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts diskutierten Ärzte und Gesundheitspolitiker – nicht nur in Deutschland – über mögliche Maßnahmen zur Gesundung des „Volkskörpers“, über „Rassenhygiene“ und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen sowie der „Gnadentod“ unheilbar Kranker standen bereits im Raum.
Seit 1939 plante das Hauptamt II  der „Kanzlei des Führers“ unter Reichsleiter Philipp Bouhler die als „Euthanasie“ genannte Mordaktion an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Ärztlicher „Euthanasie-Beauftragter“ wurde Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt. „Legalisiert“ wurden die Morde durch ein Ermächtigungsschreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert wurde, um so zu erreichen, dass die Aktion möglichst unbemerkt blieb.

Von der Berliner Zentraldienststelle aus (seit April 1940 in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 residierend, woher das Kürzel „T4“ rührt) wurden an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich und in die angegliederten Gebieten Meldebogen versandt, die die mit der Patientenbehandlung betrauten Psychiater vor Ort ausfüllten und schließlich etwa 40 von der Zentrale bestimmte Ärzte begutachteten. Sie entschieden über Leben und Tod, ohne die Kranken persönlich gesehen zu haben. Mit den zum Symbol für die „Euthanasie-Aktion“ gewordenen „Grauen Bussen“ wurden die durch ein rotes Plus-Zeichen auf ihrem Meldebogen zur Ermordung bestimmten mehr als 70 000 Patienten aus den Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in „Zwischenanstalten“ in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hadamar im Gas erstickt.
Diverse Tarnorganisationen wurden gegründet, um die Morde in den Tötungsanstalten zu verschleiern. Die Durchführung der Abtransporte der Behinderten in die Tötungseinrichtungen lag in den Händen der dafür errichteten Gemeinnützigen Kranken-Transport-Gesellschaft (Gekrat). Die Abrechnung mit den Kostenträgern erfolgte über die eigens gebildete Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten und als Organisator und Arbeitgeber trat die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege auf.
Bis 2011 wusste man im Antoniusheim nur wenig über die Zeit Anfang der 40er Jahre, konnte nicht sagen, wie viele Menschen in der Münchshöfener Einrichtung lebten, wie sie hießen, woher sie kamen. Es gab kaum mehr Unterlagen, Akten, die Aufschluss hätten geben können.

Anfang 2011 stieß Gerhard Schneider, stellvertretender Krankenhausdirektor des Bezirksklinikums Mainkofen, auf das Antoniusheim Münchshöfen und fand heraus, dass 107 Frauen– verteilt auf drei verschiedene Transporte am 27. Juni, 4. Juli und 05. August 1941 – nach Hartheim gebracht wurden. Sie wurden vergast, dann verbrannt, ihre Asche in die Donau gekippt oder Überreste im Garten des Schlosses vergraben. Den Angehörigen oder Verwandten wurde mitgeteilt, dass sie an einer schweren Krankheit unerwartet verstorben waren. Aus politischen Gründen wurde die „T4-Aktion“ im August 1941 offiziell eingestellt.

Fahrt nach Hartheim – ein idyllischer Ort mit grausamer Geschichte

Das Renaissance-Schloss in Alkoven bei Hartheim wurde im Frühjahr 1940 von den Nationalsozialisten innerhalb weniger Wochen vom Pflegeheim  in eine Vernichtungsanstalt mit Gaskammern umgebaut. Rund 30.000 Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung sowie psychisch kranke Menschen sind an diesem Ort ermordet worden. 2003 wurde dort eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-Euthanasie und die Ausstellung „Wert des Lebens“ eröffnet. Während der Führung erhielten die Teilnehmer Informationen über die Geschehnisse der ehemaligen Tötungsanstalt, besichtigten die ehemaligen Vergasungs- und Verbrennungsanlagen und  den Schuppen, in den die Transportbusse einfuhren , die Gedenktafeln und das Grabmal, die die sterblichen Überreste der Opfer enthalten. Der harte Kontrast vom idyllischen Arkadenhof und der grausamen Geschichte führte bei den Teilnehmern zu Schweigen und Unfassbarkeit. Und am Ende der Führung stellt Richard, heutiger Bewohner des Antoniusheims, fest: „So was kann nicht mehr passieren!“
So ist nur zu hoffen, dass die Menschen – heute und in Zukunft – die Gleichheit der Verschiedenen erkennen und anerkennen, und eine „Behinderung“ oder „Anders-Sein“ als Ausdruck der Vielfalt des Menschseins sehen!

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Jedes Opfer hat eine Identität! Mitarbeiter lesen die  Namen der 107 ehemaligen Bewohnerinnen des Antoniusheims vor, die auf Scherben verewigt sind, vor.

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